Uebung bei Leo Kofler

Atempionier Leo Kofler: Die Kunst des Atmens

Leo Kofler, geboren am 13.3.1827 in Brixen, Südtirol, übersiedelte 1866 nach Amerika und verstarb am 27.11.1908 in New Orleans. Er ist einer der Gründerväter moderner Atemlehren: was er am Atem gefunden hat, geht allein auf ihn zurück, es gibt keinen unmittelbaren Vorgänger. Leo Kofler ist der Lehrer von Clara Schlaffhorst und Hedwig Andersen – obwohl die drei nie beisammen gesessen oder gemeinsam geübt haben. Der persönliche Austausch fand über einen „sehr lebhaften Briefwechsel“1 statt, nachdem die beiden Frauen, die die positiven Wirkungen seiner Lehre am eigenen Leib erfahren hatten, Kontakt zu ihm aufgenommen hatten.

Sein englischsprachiges Werk „Art of breathing as the basis of toneproduction for singers, elocutionists, educators, lawyers, preachers, and all others desirous of having good health”, 1887 von der Kessinger Publishing Company in New York herausgegeben, war ihnen von Dr. Kafemann, einem Spezialarzt für Nasen- und Halskrankheiten in Königsberg in Preußen als Lektüre zur richtigen Atmungstätigkeit empfohlen worden. Die beiden Frauen sind von der „außerordentlich günstigen Wirkung der Atemübungen auf die Stimme und die Gesundheit“ über alle Erwartungen begeistert, so dass sie sich entscheiden, ihre Übersetzung des Büchleins „zu veröffentlichen, um dies segensreiche Werk auch weitern Kreisen zugänglich zu machen“.2 Auf die Erstveröffentlichung der Übersetzung 1897 folgt fünfzehn Jahre später eine vor allem in den Sprachwendungen überarbeitete Ausgabe. Der deutsche Titel lautet „Die Kunst des Atmens – Als Grundlage der Tonerzeugung für Sänger, Schauspieler, Redner, Lehrer, Prediger usw., sowie zur Verhütung und Bekämpfung aller durch mangelhafte Atmung entstandenen Krankheiten.“

Leo Kofler kommt, ähnlich wie Cornelis Veening (1895-1976), über die eigene Gesundheitsproblematik und die ungenügenden bis schädigenden Stimmlehren seiner Zeit zum Atem. Von seinem Vater, der Organist war, wird Leo Kofler früh im Klavier-, Violin- und Orgelspiel unterrichtet. Das musikalisch begabte Kind fühlt sich vor allem vom Gesang angezogen. Leo Kofler singt in mehreren Kirchenchören, verzweifelt aber früh an seiner Stimme, die leicht ermüdete und auch heiser klang. Er bemüht sich Hilfe zu finden, fragt all die berühmten Sänger und Sängerinnen, die im Hause seines Vaters verkehrten, und muss resigniert feststellen, dass diese „nicht imstande (sind), ihn die richtige Art zu lehren.“3 Auch eine Studienzeit in Berlin bricht er enttäuscht ab.

1866 siedelt er nach Amerika über, ist hier zunächst als Organist und Gesangslehrer in verschiedenen Städten tätig und wird 1877 Organist und Chordirigent an der St. Paul’s Chapel der Trinity Parish in New York. Im Musikleben der Stadt ist er bekannt und auch als Gesangslehrer geachtet.

Gesundheitlich leidet Leo Kofler an häufigen Erkältungen. Als er bei sich Anzeichen der Schwindsucht bemerkt, an der mehrere seiner Familienangehörigen in kurzer Zeit verstorben waren und die damals für erblich gehalten wurde, entschließt er sich aus „Liebe zum Leben, zur Arbeit und zu seiner Familie … gegen den frühzeitigen Tod zu kämpfen“.4 Er studiert in physiologischen Werken insbesondere zur Lunge, zum Kehlkopf und zur Tätigkeit der Stimmbänder, er forscht und führt Gespräche. Er kommt zu der Überzeugung, „dass die Lungen die Quelle der Reinheit und Wärme des Blutes sind, und dass ihre Tätigkeit das beste Mittel ist, die Verdauungsorgane und somit den ganzen Körper in vollständiger Arbeitstüchtigkeit zu erhalten“.5 Er entwickelt entlang der natürlichen Atmungstätigkeit ein System von Atemübungen, die er an sich erprobt, und kann mit diesen in relativ kurzer Zeit nicht nur eine Verbesserung seines gesundheitlichen Gesamtzustandes, sondern auch eine wohltuende und anhaltende Kräftigung seiner Stimme erreichen.

„Es ist das unbestrittene Verdienst Koflers, dem Sänger den Weg zur Natur, d. h. zur natürlichen Einatmung, die stets die Voraussetzung, die Grundlage für die kunstgemäße Ausatmung bleiben muß, gewiesen zu haben.“6 So würdigen ihn seine Übersetzerinnen zum Schluss ihres Vorwortes. Tatsächlich beruht die Atemlehre Koflers auf einer Art ‚zugelassenen Atems‘. Er begründet unaufgeregt und physiologisch genau, dass der Einatem ein Einströmen der Luft ist, das insbesondere auf der Zwerchfelltätigkeit und dem Nachgeben der Lunge beruht und keines Willenseinsatzes bedarf. Erklärt, dass der Ausatem umgekehrt von der Elastizität der Lunge ausgeht, die ein Zusammenziehen erfordert. „Das Zwerchfell ist bei der Einatmung tätig, bei der Ausatmung kann es nicht schon wieder tätig sein, sondern es muß sich abspannen, und wir sehen gerade hierin wieder die wundervolle Arbeitsteilung der Natur, daß Lunge und Zwerchfell, die beiden Hauptfaktoren bei der Atmung abwechselnd tätig sind.“7 Diese auffällige Betonung der Arbeitsteilung geht gegen die Auffassung, dass eine beständige Vollatmung den Atemapparat zu sehr ermüden würde und daher ein Abwechseln zwischen der Schlüsselbeinatmung, der Flankenatmung und der Zwerchfell-Bauchatmung zu praktizieren ist, um den jeweils nicht beanspruchten Muskelgruppen Ruhepausen zu gönnen; was er an anderer Stelle mit „dies ist, gelinde gesagt, Unsinn“8, kommentiert hatte. Denn „die ununterbrochene Erneuerung des Atems ist die wichtigste Lebenstätigkeit vom ersten bis zum letzten Lichtschimmer, den ein lebendes Wesen sieht. Es war notwendig, daß die Muskeln, die den Atmungsapparat ausmachen, von dem Schöpfer so gestaltet und eingerichtet wurden, daß sie befähigt sind, diese unaufhörliche Arbeit auszuhalten, ohne vieler Ruhe zu bedürfen“.9

Während Einatem, Einatem-Impuls und Ausatem ausführlich besprochen werden, fällt auf, dass auf die Qualitäten der Atemruhe nicht eingegangen wird. Das hat sicher mit der Grundausrichtung seiner Lehre auf Singen und Sprechen zu tun. In den Beschreibungen der Übungen jedoch finde ich sie, die Ruhepause des Atems, die abzuwarten ist: „Nachdem man ausgeatmet und die Ruhepause abgewartet hat, läßt man die Luft durch die Nase einströmen, …“10 Dieses „Abwarten“ weckt für einen Moment die Erinnerung an Herta Richter – nicht weil ihre Lehre auf Leo Kofler zurückzuführen wäre, aber ihre immer wieder mit sanftem Nachdruck angebotene Mahnung „Wartet euch ab“, die mehr meinte als das körperliche Atemgeschehen, zeugt von der mit der Zeit gewonnenen Erfahrung, dass auch das Abwarten ein zu Übendes ist.

Leo Kofler spricht sich ausführlich für die Nasenatmung aus, sowohl für jedermann im gewöhnlichen Leben als auch für Sänger und Redner, erklärt die physiologischen Vorteile und lässt auch dem von uns so geliebten Gähnen in seiner Regulierungsfunktion die gebührende Wertschätzung zukommen: „Mitunter zwingt dich die Natur … gegen deinen Willen einen tiefen Atem zu nehmen und zwar durch jenen Naturtrieb, den man Gähnen nennt.“11

Skurril ist es, wie vehement er sich gegen die Idee stemmen muss, „… daß das weibliche Geschlecht von der Natur aus so eingerichtet wäre, daß es nicht volle Zwerchfellatmung, sondern nur Hochatmung gebrauchen dürfe. Dies wird durch die natürliche Bestimmung der Frau begründet, der es während der Schwangerschaft unmöglich wäre, tiefe Zwerchfellatmung auszuführen.“12 Er führt dagegen den beobachtbaren besonderen „Atmungstypus der Frau“ dankenswerterweise nüchtern auf das Korsetttragen zurück.

Leo Kofler weist auch auf die Bedeutung der richtigen Haltung beim Sitzen und Stehen hin; vor allem will er vor dem gebeugten Sitzen warnen. Dabei fällt mir sein freundlicher Humor auf, der mich spontan an Dore Jacobs erinnert, wenn auch bei ihr der Humor doch etwas griffiger daherkommt: „Man hat eine Stunde lang unnatürlich über das Pult gebeugt gesessen, die Atmung ist während dieser ganzen Zeit höchst unvollkommen gewesen. Die Arbeit beginnt zu stocken; die Gedanken wollen nicht kommen, das Gehirn weigert sich, zu arbeiten. Man legt beide Ellenbogen auf den Tisch, drückt die Stirn in die Hände und beugt sich noch tiefer herunter. Trotzdem kommt keine Erleuchtung.“ Und er fragt, „Nun, mein Freund, merkst du nicht, daß die Luft in deinem Zimmer verbraucht und deine Atmung ungenügend ist?“13

In seinem Büchlein „Die Kunst des Atmens“ nimmt ein Plädoyer für das Atemanhalten nach dem Einatem bei voller Lunge unerwartet viel Raum ein. Es wird als besonders reinigend und gesundheitsfördernd gelobt. Zur Untermauerung verweist Leo Kofler auf zeitgenössische Literatur, in der dieselbe Ansicht vertreten wird, und darauf, dass diese Art des Atemanhaltens in asiatischen wie europäischen Kulturen in jahrtausendealten Traditionen weitergegeben wird. Er empfiehlt das Atemanhalten unter anderem auch als schnelle Einschlafhilfe. Im Internet finde ich eine interessante Nachricht von 202014 über Experimente im Schlaflabor, die diese Methode mit Menschen, die an Einschlafstörungen leiden, getestet haben – sie proben mit 4 Sekunden durch die Nase einatmen, 7 Sekunden die Luft anhalten, 8 Sekunden durch den Mund ausatmen. Die Forscher geben an, dass die Probanden innerhalb kürzester Zeit in das Schlafverhalten fallen, und begründen dies damit, dass das Atemanhalten bei mit Sauerstoff gefüllter Lunge zu einer Tiefenentspannung im gesamten Organismus führt.

Insgesamt geht es Leo Kofler um eine fundierte Wissensvermittlung zum natürlichen, im Körper vorgegebenen Zusammenspiel der Atmungsorgane, der Atmungsmuskulatur, des Kehlkopfes und der Stimmbänder sowie ihrer wechselseitigen Beeinflussung. Und um die Weitergabe seiner Einsichten für die Praxis des Sprechens und Singens; dabei kommt es ihm nicht nur auf ‚das richtige Tun‘ sondern auch auf ‚das Lassen‘ an: „Vor allem aber ist es wichtig, alle diejenigen Muskeln von der Mittätigkeit auszuschalten, deren Anspannung nur hindernd und störend wirken würde.“15 Die Sichtweise auf den Atmungsapparat ist aber noch eine mechanisch-technische und bei den Übungen handelt es sich dementsprechend um präzise auszuführende Anleitungen. In dieser Herangehensweise unterscheidet er sich übrigens erheblich von dem oben erwähnten Cornelis Veening. Leo Kofler geht es noch nicht um das Erschließen individueller Erfahrungs- und Entwicklungsräume und das Anstoßen von Bewusstwerdungsprozessen oder gar einen Zugang zum Unbewussten – so weit ist seinerzeit noch nicht einmal Sigmund Freud. Dieser betreibt in Wien seit 1886 zwar schon eine Praxis, aber das „Geburtsjahr der Psychoanalyse“, der Wechsel von der Physiologie zur Psychologie, wird gemeinhin in das Jahr 1895 gesetzt. Leo Kofler möchte dem Sänger wie dem Sprechenden zeigen, wie er sich technisch so schnell und mit so wenig Anstrengung wie möglich das Maximum an Luft holen und wie er es ohne es zu verschwenden für das Singen oder Sprechen verwenden kann – inklusive der benötigten Stützungen.

In diesen Übungen geht es einerseits darum, den natürlichen Atemgesetzen nicht zuwider zu handeln, andererseits aber das Atemgeschehen für das Singen und Sprechen optimal zu modifizieren. Mir persönlich, die ich keinerlei Erfahrung mit Gesangsausbildung habe, kamen die Übungen im vorausgesetzten kleinteiligen Wissen zum Atmungsapparat technisch und gymnastisch vor, so dass mich immer wieder gefragt habe, wo in den Anweisungen zur Kontrolle des Atemflusses und der Beherrschung der Muskelgruppen die Natur des Atems bleibt. Dazu passt, dass die Übungen wohl von vielen Lesern in ihrer Begeisterung als sportliche Leistung mißverstanden und mit unangemessenem Krafteinsatz ausgeführt wurden. Wenn Leo Kofler seine Arbeitsweise jedoch gegen andere Methoden verteidigt, wird schnell klar, wieviel haarsträubend falsche Annahmen in seiner Zeit über die Atmung im Umlauf waren, und wie erfahrungsfundiert er sich an den natürlichen Atemvorgängen orientiert.

In seinen Kommentaren weist er verschiedentlich darauf hin, dass alles am Atem in entspannter Haltung, ohne Muskeldruck und Willensspannung zu geschehen habe. „Man achte darauf, daß diese Zusammenziehung nicht krampfhaft wird, sondern im richtigen Augenblick aufhört. Die hierauf folgende Einatmung darf nicht heftig und gewaltsam, sondern muß leicht und mühelos erfolgen.“16 Auch mahnt er immer wieder vor Übertreibung und zu viel Ehrgeiz, ja sogar davor, mit Freunden zu üben, da dies den Wetteifer anstachelt und daher mehr Schaden als Nutzen bringt. Bei Ermüdung und Unwohlsein sind die Übungen sofort zu beenden. Das entspricht ganz unserem Verständnis vom „eigenen Maß“.

Anderes Vertrautes taucht auf, wie das Klopfen zum „Öffnen der Lungenbläschen“17 von Brust, Schultern und das Klopfen des Rückens als Partnerübung; natürlich die Lippenbremse; die Konsonanten als Bestandteil von Ausatmungsübungen und das stimmose oder flüsternde Tönen des „e“ bei lächelnden Lippen. Am stärksten überrascht hat mich in einer der Übungen die folgende Bemerkung18 ,

„Man erreicht dies am besten, wenn man sich vorstellt, man röche an einer Blume“.

Da liegt plötzlich die Übungsweise „Duft und Hauch“ mit ihren Variationen ganz nah.

Vermutlich handelt es sich bei dem Büchlein „Die Kunst des Atmens“ auch um einen der ersten modernen Gesundheitsratgeber. Physiologisch-medizinisches Wissen wird für den Laien aufgearbeitet und in einer verständlichen Form dargestellt, gesundheitlich relevante Zusammenhänge werden erklärt und geeignete Maßnahmen und Übungen vorgeschlagen. Neben Einschlafproblemen und der guten Haltung behandelt er z. B. auch üblen Geruch aus dem Mund und aus der Lunge, geistige wie körperliche Müdigkeit, spricht von den Verdauungsorganen und gibt Hinweise zur präventiven Erhaltung und Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes.

Als Leo Kofler als Neununddreißigjähriger 1866 nach Amerika übersiedelte, war dort die Industrialisierung in vollem Gange, der 13. Zusatzartikel zur Verfassung, mit dem die Sklaverei auf dem gesamten Gebiet der Vereinigten Staaten endgültig abgeschafft wurde, war gerade in Kraft getreten. Im Jahr 1887, in dem sein Buch „Art of breathing“ herausgebracht wurde, meldete Emil Berliner ein Patent auf einen scheibenförmigen Tonträger, in den schneckenförmig eine Rille geritzt war, und das zugehörige Aufnahme- und Abspielgerät – das ursprüngliche Grammophon – beim US-Patentamt an. 1908, in dem Jahr, in dem er als Einundachtzigjähriger verstirbt, wird in Detroit das erste Ford Modell T – es ist das weltweit erste massenweise produzierte Automobil – fertiggestellt. In vier Jahren, am 13.03.2027, wäre Leo Kofler 200 Jahre alt geworden.

〈Leider bin ich erst nach der Veröffentlichung dieses Artikels in der ATEM-Zeitschrift bei Christoph Ribbat auf den Hinweis gestossen, dass Leo Kofler sich selbst das Leben genommen hat. Zunächst mochte ich es kaum glauben und als ich die Nachricht im Internet-Archiv der New York Times fand, war ich schockiert zu lesen, dass er sich mit einer Waffe in den Mund geschossen hat, während sich seine Frau ebenfalls im Haus aufhielt. Sie hört den Schuss und findet ihren Mann in seinem Zimmer mit der Schusswunde im Mund.

Hinweis: Christoph Ribbat, Die Atemlehrerin, Suhkamp Verlag Berlin, 2. Aufl. 2021, Seite 15 Absatz 2
Die Nachricht, die am 28. November 1908 in der New York Times erschien, befindet sich noch im Internet-Archiv:
ORGANIST KOFLER A SUICIDE.; Former Choirmaster of St. Paul’s Shoots Himself in Jersey Home.〉

Quellenangabe:

Die Abbildung und alle Zitate sind, wenn nicht anders angegeben, dem Buch „Die Kunst des Atmens“ von Leo Kofler entnommen; aus dem Englischen übersetzt von Clara Schlaffhorst und Hedwig Andersen, Verlag Breitkopf & Härtel, Leipzig, 14.-18. Aufl., 1924
1) S. XI, 2) S. VIIf., 3) S. IV, 4) S.V, 5) S. V, 6) S. XII, 7) S. 28, 8 + 9) S. 17, 10) S. 80, 11) S. 18, 12) S. 20, 13) S. 22, 15) S.63, 16) S. 57, 17) S.83, 18) S. 80
14) unter anderem: https://praxistipps.focus.de/luft-anhalten-ist-gesund-was-sie-darueber-wissen-sollten_116778.

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Artikel veröffentlicht in ATEM – Die Zeitschrift, Ausgabe 2-2023