Teilnehmer-Texte aus der Schreibwerkstatt am Atem

In aller Regel beginnen wir Schreibwerkstatt-Seminare mit dem Ankommen bei sich selbst und der vertieften Anwesenheit im leiblichen Erdraum. Für den Einstieg in das erste Schreiben biete ich dann eine Anregung an, die Anspruchshaltungen unterwandern und ein leichtfüßigeres Einfinden ermöglichen kann. Gerne aus meiner Kategorie ‚Suppengrün‘, das sind Vorschläge, die in unterschiedlicher Weise mit Farb-Wörtern spielen. So auch am Sonntag, den 10. April 2022.

Für dieses dreistündige Seminar am Sonntagvormittag, das recht spontan – direkt nach dem AtemSamstag – verabredet wurde, hatte ich am Abend wenig Zeit zur Vorbereitung. Folglich habe ich erst am Morgen zwischen der Frage, was ziehe ich an, dem Lüften, Kotrollieren der Räume und dem Teekochen die unten stehende Anregung erfühlt, geschrieben und schnell ausgedruckt.

grünspecht
rosenrote Rose
skandalblau

kirschrot
erdbeereis
himmelhochjauchzend

nun regnet es …
rotfüchse sitzen am tisch

Einfach beginnen, das Naheliegende aufnehmen und das nächste anfügen; bleibt man in dialogischer Offenheit dran, übernimmt irgendwann schöpferisch das Unbewusste. Der Vers „rotfüchse sitzen am tisch“ markiert so einen Moment. Die Anbindung hier ist mindestens um zwei Etagen tiefer gerutscht als der spielerische Anfang, fordert aber auch sofort eine entsprechend höhere Verbindlichkeit ein.

Die Teilnehmerin, die erstmals und ohne vorhergehende Erfahrungen im literarischen Schreiben an unserer Atem-Schreibwerkstatt teilnahm, hat mir am selben Sonntag noch freundlicherweise ihre Texte / Notizen abgeschrieben und per e-Mail zugeschickt. Für mich ist es beeindruckend zu erleben, wie sich Tiefe, Verbundenheit und das organisierende Wirken der inneren Kräfte schon beim ersten Schreiben am Atem zeigen. Aus den Texten der Teilnehmerin habe ich für diesen Artikel folgenden Auszug zusammengestellt. Den Wechsel der Phasen des Sitzens am Inneren Atem und des Schreibens habe ich nicht eingefügt; ich meine, er lässt sich gut erahnen:

gedankenlos bin ich geborgen in mir

das Leben lachend glitzerfunkelgrün
lebendes Lachen smaragdrot
Pause – webfeines blau
Neustart – sonnengelb

Spirale
sorgenvolle
gehörlos
abgeschirmt
maschinensoldatenmaschierend
Erinnerungen weckend
sonnengelb?

Baum ohne Blätter –
Von deinem kahlen Ast
Startet ein Schmetterling
Mit blauleuchtendem Flügelschlag

gelb – verbunden, braun – verwurzelt
weiter, schwingender, haltender Grund
alle Farben vereinend – von allen Farben gehalten

Zweifelsohne hat hier ein Prozess stattgefunden. Für mich zeigt sich im Fortgang des inneren Geschehens etwas dialektisches, das sowohl Offenlegung als auch Integration verfolgt.

Überzeugend wie satt und klar, kräftig und leuchtend die ersten Farben kommen, wie selbstverständlich mittendrin das ’smaragdrot‘ steht und wie wenig abgegriffen das ’sonnengelb‘ am Ende wirkt. Smaragd entsteht in den meisten Fällen durch eine Metamorphose; dort, wo Stoffe völlig verschiedener Welten unter hohem Druck und großer Hitze aufeinander treffen und in der Kontaktzone einander durchdringen. Als Heilstein stärkt er in Krisen vielseitig Gesundung und Individuation. In der Sichtweise der Hildegard von Bingen ist er geballte Grünkraft, hier wird der Smaragd mit seiner Komplementärfarbe, einem vitalen Rot, zusammengebracht. Im knappen ’smaragdrot‘ kommt eine Bedeutungsfülle ebenso leicht wie gewichtig auf den Punkt.

Die Strophe vom Schmetterling berührt direkt. Sie umgeht schlafwandlerisch die Gefahren eines Klischees und ist ohne weiteren Aufwand poetisch – ‚blauleuchtend‘ nicht um der Poesie willen. Erst auf den zweiten Blick wird man gewahr, dass ‚Baum ohne Blätter / kahler Ast‘ und ‚Schmetterling‘ jahreszeitlich unvereinbar sind. Paradoxerweise wirkt das Bild konkret. Und ist es auch. Die Strophe hat die Treffsicherheit und den Zauber eines Haiku.

Das innere Geschehen findet im Schreiben eine Art Spiegelung und wird so als Prozess erkennbar. Die Teilnehmerin schreibt in einer e-Mail am Montag: „Und es hat mich persönlich auch berührt zu erleben, wie die Texte miteinander verbunden sind.“ Die letzte Strophe zeugt von der Anbindung an eine persönliche Tiefe, die ausgesprochen und bejaht und damit bekräftigt wird. Wo alles zugleich sein darf – schon von daher miteinander verbunden ist – wird ein jedes tragend.
Ahnung, vertrauensvolle erste Schritte, Aufrichtigkeit und das Einverständnis mit dem, was sich zeigt, führen zu einem tieferen Selbstverständnis und geben dem Eigenen Raum zur Entfaltung.

„Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten.“ 
Paul Celan

 

Die folgenden Texte eines Teilnehmers sind in sich abgeschlossener. Zunächst hier der, der die Eingangsanregung aufnimmt. Das Verhältnis zur Sprache ist erkennbar ein individuell-anderes, aber genauso erkennbar ist, dass die Poesie des kurzen Gedichtes im Unbewussten wurzelt:

Krapplack – schraffiertes Rot
Schattenblau im Gegenlicht
Rötelstriche gehen hinaus
ins Sonnengelb

In diesem, mit wenigen Strichen flächig gezeichnetem Gedicht wird eine Tiefenschicht sichtbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Krapplack, aus der roten Wurzel des krautig wachsenden Färberkrapps gewonnen, eines der ältesten Färbemittel ist. Und Rötel, roter Ocker, ein Ton-Mineral-Gemisch, sogar seit der Steinzeit für Malerei verwendet wird. Auffällig ist, dass beide Teilnehmer ins Sonnengelb finden, eine Farbe, die in der Anregung nicht enthalten war.

Das „Erkenne Dich selbst“ des delphischen Orakels ist auch eine geistige Forderung. Die Zeilen unten sind nach einem stillen Sitzen am Atem als nächstes entstanden, weil das darin Reflektierte den Teilnehmer offenbar in seinem Innersten angeht.

Altsprache
Aus dem Sein heraus
Jedes Wort hat seinen Sitz im Leib
Jeder Gedanke eine Bewegung
Die Aussage ist Haltung

Literarisch steht diese Strophe für sich ein. Die erfahrene Zusammengehörigkeit von Leib und Sprache („Ausgangspunkt war die Erfahrung im Kurs, wie Wörter und Sätze in der leiblichen Empfindung geprüft und gewogen werden können“, so der Teilnehmer im Online-Forum) macht dann in einer Art Seitenblick auch ihr Fehlen in der öffentlichen Kommunikation benennbar:

Neusprache
Anknüpfen an Wörter mit Schlag
Dazu etwas zu sagen haben
Herumlaufen im Diskurs
Position beziehen

Die Bejahung der Zusammengehörigkeit von Leib und Sprache begleitet den Teilnehmer weiter in das Kommende, oder vielmehr: sie geht dem Kommenden voraus. Im stillen Sitzen am Inneren Atem, dem letzten an diesem Vormittag, zeigte sich die Steißwurzel im gemeinsamen Feld in einer auch mich überraschenden Präsenz und übernahm quasi kurzerhand die Anleitung. Das unten stehende, vergleichsweise lange Gedicht lässt sich im Anschluß daran in einem Fluss „herunterschreiben“ und braucht – zur Verwunderung des Teilnehmers – keine Überarbeitung mehr. Zur Veröffentlichung im Forum bekommt es den Titel ‚Steißwurzel‘:

Unbekannt Im Dunkeln Sprachlos
Manchmal wehleidig
nach einem Sturz auf den Arsch
sonst aber stumm
Fühler in der Nacht
In die Tiefe gesenkt
schwarze Leuchte
auf der Suche nach Leben

Auf der Suche nach Leben
winzig noch die Weinbeere
zieht Saft aus der Wurzeltiefe
zieht Lebenswasser
aus gefurchtem Gestein
von dem großen Wasser
der Tiefe wie der Höhe
der Quellen wie des Regens

In der Schreibwerkstatt am Atem kommen Sprache und ganzheitliche Empfindungserfahrung zu einer fruchtbaren Wechselwirkung. Das literarische Schreiben, das aus dem Unbewussten gespeist und bereichert wird, unterstützt die Bewusstwerdung und kräftigt in einer Rückwirkung wiederum die inneren Prozesse selbst. Gewonnen wird ein poetisches Selbstverständnis, das sich jeder individuellen Erfahrung zu öffnen und daher alle menschliche Erfahrung zu integrieren vermag: vom schwarzen Dreck unter dem Fingernagel bis zu den unendlichen Weiten des Weltalls.

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Artikel veröffentlicht in ATEM-Die Zeitschrift Ausgabe 2-2022

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